Konzept

Worldmaking


by Adam Budak

Welten vervielfältigen sich wie Worte im Narrativ der Leben, die wir führen. Eine nach der anderen, und dann die nächste, vermehren sie sich in einem organischen Prozess von Symbiose und Wachstum. Der amerikanische Philosoph Nelson Goodman unterstreicht die kollektive Selbstreferentialität der Welt, ihre Wechselbeziehung zu anderen Welten, ihre Pluralität: „Wenn ich nach der Welt frage, dann kannst du mir eine Erklärung anbieten, wie sie in einem oder mehreren Referenzrahmen ist. Aber wenn ich darauf bestehe, dass du mir sagst, wie sie jenseits aller Referenzrahmen ist, was kannst du mir dann sagen?“ Goodman sieht die Welt als ein Geflecht verwobener Narrative. Unsere Rolle ist es, diese Narrative nachzuerzählen. Die Strategie zu finden, die Art und Weise, es zu tun, darin besteht unsere Aufgabe. „Wir sind beschränkt auf Arten, das zu beschreiben, was beschrieben wird. Unser Universum besteht sozusagen aus diesen Arten und nicht aus einer Welt oder Welten. (…) Die vielen Stoffe – Materie, Energie, Wellen, Phänomene –, aus denen Welten gemacht sind, wurden gleichzeitig mit den Welten geschaffen. Aber geschaffen woraus? Schließlich nicht aus nichts, sondern aus anderen Welten. Weltenschöpfung, so wie wir sie kennen, beginnt stets mit bereits vorhandenen Welten. Das Schöpfen ist also ein Umgestalten.“ 1

Eine der grundlegenden Prämissen der siebten Biennale Gherdëina ist es, unsere Fähigkeit zu erforschen und zu hinterfragen, zum aktiven Prozess des fortlaufenden (Um)Gestaltens der Welt beizutragen, während die Welt, in der wir wohnen, scheinbar an ihren Grenzen angelangt ist, in einem prekären, kritischen Moment sozio-politischen Aufruhrs, einem ethischen Vakuum und einer immunologischen Krise. Das Prinzip der Verantwortung und Umsicht sowie der Bürgerpflicht und der damit verbundenen Demut stellen sich als Werkzeuge unserer täglichen Poiesis heraus und bestimmen die Dringlichkeit unseres Handelns und Engagements. Wir stecken gemeinsam in dieser Situation, ein während der letzten Monate des pandemischen Schwebezustands häufig wiederholtes Mantra, erinnert an das grundlegende Argument der Politik der Affirmation der Philosophin Rosi Braidotti. Wir sind die Teilnehmer dieser Welt, ihre zärtlichen Erzähler2 und die Passanten3, die den Poeten lauschen, Shelley’s „geheime Gesetzgeber der Welt“. Schließlich und endlich sind wir die Interpreten dieser Welt und ihrer weiten Gebiete von Land und Gedanken, sowohl real als auch imaginär. Gemeinsam in dieser Situation. 

Der übergeordnete Titel der siebten Biennale Gherdëina, „-a breath? - a name?”, bedient sich eines Verses von einem jener Poeten, die sich der Unlesbarkeit der Welt angenommen haben, des bedeutendsten deutschsprachigen Autors seiner Zeit, Paul Celan (1920–1970)4. Der französische Philosoph Jacques Derrida analysierte dessen Poetik und Politik der Zeugenschaft und beschrieb Celan als einen Dichter der Singularität, der Einsamkeit und der geheimen Begegnung. Der Dichter legt Zeugnis ab und „das Gedicht spricht, sogar wenn keiner seiner Bezüge verständlich ist, keiner außer dem Anderen, dem einen, an den das Gedicht sich richtet und zu dem es spricht, indem es sagt, dass es zu ihm spricht. Selbst wenn es den Anderen nicht erreicht, so ruft es ihn doch an. Ansprache findet statt.“5 Der Akt der Ansprache, der Namensgebung, etabliert einen ethischen Standpunkt. Derrida verweist auf den Aufruf zur Verantwortung in Celans Vers „Die Welt ist fort, ich muss dich tragen“ und bezieht sich dabei auf die Beschreibung der Verantwortung des französischen Philosophen Maurice Blanchot als ein Paradox der Subjektivität, das sowohl einen Rückzug als auch Verantwortlichkeit mit einschließt. „Meine Verantwortung für den Anderen setzt eine Umkehrung voraus, sodass sie nur durch eine Veränderung im Status des Ich gekennzeichnet sein kann, einer Veränderung in der Zeit und vielleicht in der Sprache. Verantwortung, die mich meiner Ordnung enthebt, vielleicht aller Ordnungen und der Ordnung selbst, Verantwortung, die mich mir selbst enthebt (dem Ich, das Kontrolle und Macht ist, dem freien, sprechenden Subjekt) und den Anderen an meiner Stelle offenbart, verlangt, dass ich mich für meine Abwesenheit, meine Passivität rechtfertige. Sie verlangt mit anderen Worten, dass ich mich für die Unmöglichkeit rechtfertige, verantwortlich zu sein. Wozu sie mich immer schon verurteilt hat, indem sie mich verantwortlich gemacht hat und mich auch gänzlich ignoriert hat.“6 In ihrer Diskussion zum Thema Enteignung als Hinweis auf das performative Element in der Politik verweisen auch die Philosophin Judith Butler und die Anthropologin Athena Athanasiou auf Derridas Feststellung, dass Verantwortung Empfänglichkeit voraussetzt und halten Selbst-Poiesis für eine (ethische) Bezugskategorie, die Selbstsorge und Selbstschöpfung einschließt.7 „Verantwortung selbst ist eine Arena der politischen Auseinandersetzung”, kontextualisieren die Autorinnen die soziale Situation eines empfänglichen Selbst und stellen die Frage nach einer ethischen Beziehung. „Die Politik der Performativität schließt ein Eingeständnis des Machtgefüges ein, das sie infrage stellt und von dem sie abhängt. Sie umfasst sozusagen das Tragen von Verantwortung für die Machtstrukturen, in denen und durch die wir aufeinander reagieren.“8 Butler und Athanasiou bringen Enteignung – ein bedenkliches Konzept, das Prozessen der Unterwerfung zugrunde liegt, mit Neigung, als angenommener Bereitschaft dem anderen gegenüber, in Verbindung und stellen sich die Frage, was die politische und ethische Empfänglichkeit möglich macht. „Die Bedingung der Enteignung – als Entblößung und Neigung anderen gegenüber, als Erfahrung von Verlust und Trauer oder als Anfälligkeit für Normen und Formen von Gewalt, die uns gegenüber gleichgültig sind – ist die Quelle unsere Empfänglichkeit und Verantwortung für andere. Tatsächlich ist Neigung – mit all ihren Implikationen von affektivem Engagement, Ansprache, Risiko, Aufregung, Entblößung und Unvorhersehbarkeit – das, was Performativität und Prekarität verbindet.9 In einer Welt des Niedergangs wird Bereitschaft zu einer moralischen Pflicht. Auch sie stellt im prekären Leben, auf der Suche nach Kollektivität und Zugehörigkeit, einen Akt des Widerstands dar. Die Welt ist fort, ich muss dich tragen. 

Paul Celan suggeriert „einen Atemzug“ und „einen Namen“ als formative Gesten jener Welt, für die wir verantwortlich sind. Die elementaren Akte des Atmens und der Benennung verweisen auf eine genuine politische Stellungnahme von Subjekten und Gemeinschaften. Die Namensgebung wirft Fragen nach Identität, Legitimität, der Erbschaft und Unterschrift auf. Atmen, ein Atemzug – der erste und der letzte, und ihre fortdauernde Entfaltung, der Anfang und das Ende, und das Dazwischen, das Leben selbst, und der Tod, sein Gefährte. Ein Widerstand, ein Erdulden, ein Durchhalten.

„Wir umarmten uns schon in unseren Namen”, so definierte der französische Philosoph Michel de Montaigne Freundschaft in seinen legendären Essays. In einer Abhandlung zum Thema der Namensgebung bei Jacques Derrida und Emmanuel Levinas behauptet der US-amerikanische Literaturtheoretiker Christian Moraru, „Namen sind nicht länger Metonymien, sie stehen nicht nur für das, was sie benennen, für bestimmte Identitäten. Namen konstituieren, sind schlussendlich Identitäten. Der Name ist zu seinem eigenen, lebenden Referenten geworden, Fleisch und Blut, Körper.“10 Benennen ist bestärken. Es ist ein Instrument sowohl des Zwangs (indem es die Schicksale der Charaktere bestimmt) als auch der Freiheit (indem es neue Möglichkeiten der Befreiung aufzeigt). Derrida11 unterzieht die Paradoxa der Namensgebung einer gründlichen Analyse und stellt fest, dass das traditionelle „der Name des Vaters“ als Inbegriff der Unterdrückung angesehen wird ebenso wie es als Hinweis auf die Möglichkeit der Namensgebung gesehen werden kann, über die Sprache hinauszugehen, ihre Macht, die Hegemonie zu durchbrechen (eine mutige Tat, sich einen Namen zu machen, wie im Fall der Erbauer des Turms zu Babel). Eine ähnliche Ambiguität ergibt sich bei Derrida’s Verständnis eines Namens als Geschenk. In einer Analyse des Akts der Namensgebung in Jean Genets Werk stellt der Philosoph fest: „Wenn Genet Namen vergibt, dann tauft er sowohl als dass er verurteilt. (…) Es gibt keine reinere Gegenwart, keine Großzügigkeit, die mehr Anfang ist“ als jemandem das Geschenk eines Namens anzubieten. Jemandem einen Namen zu geben, ist jemandem „nichts, kein Ding” zu geben, „doch solch ein Geschenk eignet sich gewaltsam an, harpuniert, durchsucht [arraisonne], was es zu erzeugen scheint, durchdringt und paralysiert mit einem Schlag [coup] den so geweihten Empfänger.“11 Namensgebung gewinnt einen ethisch-performativen Status. In einem anderen Text erkennt Derrida, dass die Gabe eines Namens korrumpiert werden kann; ein Name kann die Person verschwinden lassen, er kann sie „in den Wassern seines Namens ertrinken lassen, in denen alles verschlungen ist”.12 

In „Glas” kommt er zum Schluss: „Einen Namen zu geben bedeutet immer, wie bei jeder Geburt (Urkunde), die Einzigartigkeit zu fördern und auch dagegen zu informieren, sie der Polizei zu übergeben.13 Als solche, mit ihrem mehrdeutigen Charakter, gilt die Namensgebung als eine mächtige Waffe, als politische Kategorie einer Sichtbarkeit, die zur Politik der Anerkennung beiträgt. Butler und Athanasiou wissen die Anerkennung als Ermächtigung zu schätzen, und als transformative Bedingung, die eine ständige Neuerfindung von Formen politischer Subjektivität ermöglicht. Die Autorinnen betonen: „Eine der wichtigsten Herausforderungen, vor denen wir heute sowohl theoretisch als auch politisch stehen, besteht darin, eine Politik der Anerkennung zu denken und vorzuschlagen, die eine gemeinsame Beurteilung des Staates oder anderer Apparate, welche Macht als natürliches Instrument von Anerkennung monopolisieren, thematisiert, hinterfragt und demontiert.”14

In „Der Meridian”15 definiert Paul Celan die Poesie als „eine Atemwende”. „Wer weiß, vielleicht geht die Poesie ihren Weg - der auch der Weg der Kunst ist - um einer solchen Atemwende willen?”16, fügt der Dichter hinzu. Eine Wende des Atems ist der Kreislauf von Leben und Tod, ihr notwendiges „Zubehör”. Derrida verweist auf die Bedeutung des Atems: „ohne Atem gäbe es weder die Rede noch das Sprechen, denn vor dem Sprechen und im Sprechen, am Anfang des Sprechens, gibt es den Atem”.17 Der italienische Philosoph Franco „Bifo” Berardi bestätigt diese These. Für ihn ist der Atem und unser aktueller Zustand der Atemlosigkeit die Metapher dafür, dass Poesie die einzige Fluchtlinie vor dem Ersticken sei.18 Poesie, verstanden als „ein Übermaß an semiotischem Austausch”, hat die Kraft bekommen, den Atem zu reaktivieren, demnach zu emanzipieren und sich damit selbst zu ermächtigen. Bifos Wortspiel von „in-spiration, re-spiration and con-spiration“, welches mit dem Ausatmen endet, rückt die lebenslang vorherrschende Erzählung des Atmens, seinen poetischen Rhythmus (nach Hölderlin) ebenso wie sein politisches Tempo in den Vordergrund, nämlich die gesamte Bandbreite des Atmens zwischen Spasmen, Ersticken und dem Tod als letzter Geste des Lebens. Ein verheerender Hilferuf „Ich kann nicht atmen”,19 der von einem Opfer der Polizeigewalt und extremer Brutalität geäußert wurde, wurde zu einem massiven Gesang des Widerstands und Protests, der von Millionen Demonstranten auf der ganzen Welt vorgetragen wurde. Die Unmöglichkeit zu atmen - die Atemlosigkeit – wurde zum Signal für Unterdrückung und Ungerechtigkeit, für äußersten Machtmissbrauch und Aggression. Die politischen Unruhen überlappen sich mit der aktuellen Pandemiekrise die unser Immunsystem und den Zustand der Atemwege beeinträchtigt und die Verletzlichkeit unseres Organismus offenbart. Die Einschränkungen, die notwendig sind, um die Ausbreitung eines tödlichen Virus zu verhindern, wirken sich auf unser individuelles und kollektives Verhalten aus, auf unser Verständnis und unsere soziale Verantwortung den Mitmenschen gegenüber, sowie auf unser wiedererwecktes Bewusstsein für unsere natürliche Umwelt. Wir teilen diese Erfahrung, dass die elementaren Gesten des Atmens und Berührens zu möglichen Bedrohungen werden, alle gemeinsam. Die Zerbrechlichkeit der Natur(en) wurde auf drastische Weise offenbar; in solch schwierigen Zeiten der Ungewissheit erscheint Resilienz als eine Möglichkeit, die prekäre Situation zu bewältigen und uns in grundlegender Solidarität zu üben, die grundlegend dafür ist, um die „neue Normalität” eines gemeinschaftlichen Handeln zu bewältigen. Die Distanz zwischen dir und mir ist sorgfältig bemessen; das Ein- und Ausatmen wird streng kontrolliert, und soziale Distanzierung und Isolation werden zu einem neuen kollektiven Schicksal und zur neuen Grundlage sozialer Beziehungen. Die „Ökologie der anderen“ erhält eine neue, unerwartete Bedeutung. In einem kürzlich geführten Gespräch bringt Franco „Bifo” Berardi den Ausbruch der Pandemie mit den Unruhen in Amerika in Verbindung, und schlägt eine Lösung für die gegenwärtige psychophysischen und politischen Sackgasse, in der wir uns befinden, vor: „Meiner Meinung nach zeigt uns diese Explosion einen möglichen Weg aus dem langwierigen Lockdown, und eine mögliche Form des Aufatmens einer erstickenden amerikanischen Gesellschaft. Die Aufruhr, der permanente Aufstand, sind die einzige Möglichkeit zu atmen. Es ist der einzige Weg, in den kommenden Monaten und Jahren eine tiefe psychische Depression zu vermeiden (...) Wie können wir aus dieser klaustrophobischen Situation herauskommen? Wie können wir Polizeigewalt tolerieren? Die Proteste setzen die Jugendlichen dem Virus aus, das ist wahr. Aber Untätigkeit würde sie in dieser sich verändernden Zukunft einem Tunnel aus Depressionen und Selbstmordgedanken aussetzen. Der amerikanische Aufstand ist eine Antwort auf diese Frage. Nur der Aufstand kann uns vor einer lang anhaltenden Depression bewahren”. 20

Die 7. Biennale Gherdëina, die zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels erarbeitet und durchgeführt wurde, hat sich sich in einer Welt der allumfassenden, beispiellosen Krise und Unordnung stolz und energisch auf die Bühne gewagt, und damit als unschlagbare Kraft erwiesen, indem sie die („aufständische”) Strategie der Affirmation als eine Möglichkeit zur Bewältigung des gegenwärtigen Moments der Ungewissheit und Spannung anwandte. „Ich rufe dazu auf, (diese) Ethik der Affirmation aktiv anzunehmen”, verkündet Rosi Braidotti prophetisch in ihrem manifestartigen Statement: „Wir müssen uns die Energie der Zukunft aneignen, um die Bedingungen der Gegenwart zu überwinden. Das nennt man Liebe zur Welt. (...) Stellt euch vor, was ihr noch nicht habt; nehmt vorweg, was wir werden wollen. Wir müssen die Menschen befähigen, eine andere Welt zu wollen, zu wollen, zu begehren, eine andere Welt, aus dem Elend der Gegenwart freudige, positive, bejahende Beziehungen und Praktiken zu etablieren - ja zu reterritorialisieren. Diese Ethik wird die affirmative Politik leiten”.21 Affirmation ist eine in der Ethik und in der Beziehung angesiedelte Praxis, die sich auf das Gefühl der kollektiven Verantwortung und Fürsorge sowie auf die Überzeugung stützt, dass negative Auswirkungen verändert werden können. Als solche missachtet sie den Dualismus von Selbst/Anderer und alle anderen binären Oppositionen, einschließlich Natur/Kultur und Mensch/Nichtmensch. Wir stecken da gemeinsam drin, erinnert die Philosophin, deren Ansatz von einer auf allen Seiten gleichsam angesiedelten Relationalität ausgeht und eine egalitärere Beziehung zwischen den Arten vorschlägt. Braidottis politische Ökonomie der Subjektivität nach Spinoza, die sie entlang der Vektoren der Affirmation entwickelte, ist ein therapeutisches Werkzeug für unsere ökologisch fundierte und technologisch vermittelte, zoe-geo-techno-gebundene, post-humane und post-anthropozentrische Zeit. In Bezug auf die Politik der Ökologie und den Drang zur Dekolonisierung der Natur in den Bereichen Kunst, Aktivismus und Umweltforschung spricht der Kunsthistoriker und Kulturkritiker T. J. Demos von der Bedeutung des Einflusses dieser Überlegungen auf die zeitgenössische Kunst und den Aktivismus: „Für Braidotti ermöglicht die „becoming-Earth“-Bewegung eine ‘neue transversale Verbindung zwischen den Arten und zwischen post-humanen Subjekten, welche unerwartete Möglichkeiten in Bezug auf die Neuzusammensetzung von Gemeinschaften, die Idee der Menschlichkeit an sich und ethische Formen von Zugehörigkeit eröffnet’. (...) Diese aktivistisch-künstlerischen Praktiken stellen auch Formen des sozialen Engagements, der kollektiven Mobilisierung im öffentlichen Raum und ehrgeizige Vorschläge für eine veränderte natürliche-kulturelle heutige Welt sowie die Neudefinition der zeitgenössischen Kunst dar:22 „Der alarmierende Ausnahmezustand unserer Welt bringt die Menschheit aus der Komfort-Zone heraus zum Entgleisen, und erfordert dringende Aktionen von einem allumfassenden Ausmaß. Der Philosoph und politische Theoretiker Achille Mbembe aus Kamerun definiert diese notwendige Aufgabe und die Idee von Weltgestaltung folgendermaßen: „Wenn Covid-19 tatsächlich der spektakuläre Ausdruck der planetarischen Sackgasse ist, in der sich die Menschheit heute befindet, dann geht es um nicht weniger als den Wiederaufbau einer bewohnbaren Erde, um uns allen den Atem des Lebens zurückzugeben. Wir müssen die Lungen unserer Welt zurückerobern, um neuen Boden zu gewinnen. Die Menschheit und die Biosphäre sind eins. Allein hat die Menschheit keine Zukunft. Sind wir in der Lage wiederzuentdecken, dass jeder von uns zur selben Spezies gehört, dass wir eine unteilbare Verbindung zu allem Leben haben? Vielleicht ist das die Frage - die allerletzte - bevor wir unseren letzten Atemzug tun”.23

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Nach „From Here To Eternity” (2016) und „Writing the Mountains” (2018) ist dies das letzte und abschließende Kapitel dieser Trilogie über die Politik der Zugehörigkeit, mit dem Titel „– a breath? - a name? the ways of worldmaking“ (2020). In der 7. Ausgabe der Biennale Gherdëina erhalten alle bisher behandelten Themenfelder – die Bedeutung des kulturellen Erbes, die Erforschung historischer strategischer Positionierung, die Bedeutung des Kommunalen, die Omnipräsenz der Natur und ihrer „Industrie“ – einen sozialen und politischen Rahmen erhalten, der aber das Poetische, Spirituelle und Existenzielle nicht ausschließt. Es wird auch diesmal, wie in den letzten Ausgaben, die Komplexität der ladinischen Sprache eine Rolle spielen, und auch diese Ausgabe wird sich mit der Kontinuität und Beharrlichkeit von Traditionen beschäftigen: mit ihrer notwendigen Neuauslegung und Hinterfragung genauso wie mit ihrem transformativen Potenzial. Diese heurige Biennale legt ihren Fokus speziell auf die Bedeutung und das Bewusstsein für die gesellschaftspolitische Relevanz in einem Prozess der Welterzeugung („Worldmaking“), auf den dynamischen Faktor innerhalb dieses Prozesses, aber auch auf die Resilienz, welche durch die Kultur und die Natur garantiert wird. Es geht um einen Emanzipationsprozess, welcher verantwortungsbewusst und weitblickend die historische, hier vor Ort sich entwickelte und gewachsene Einzigartigkeit des Ortes in eine mutige, ausgereifte Vision von Zukunft führt.

Drei Kapitel über die Soziologie der Begegnung und die Politik des Pluralen werden den Kern „- a breath? - a name? the ways of worldmaking“: Die Ökologie des Anderen – über die Wiederbelebung der Beziehung (nach Philippe Descolas Reflektion über die Binarität Natur-Kultur), „das Lob der Hände“ – über das Handwerk der Berührung (eine Weiterentwicklung von Henri Focillons Traum der Unabhängigkeit der Kunst in den Bereichen Material, Technik und Zeichen) und „die Wolke des Möglichen“ – über die Verbreitung von Begeisterung und die Macht der Unterscheidung (in Anlehnung an Maurizio Lazzaratos Verlagerung von Arbeit für das Kapital hin zu Leben für das Kapital). Die Begriffe von Verantwortung und Bescheidenheit verbinden alle drei Kapitel in dem Versuch, mit Reaktionsfähigkeit und Fürsorge die größten Herausforderungen im aktiven Prozess des „Worldmaking“ zu meistern.


1 Nelson Goodman, Ways of Worldmaking, The Harvester Press, p.3-6 (originally published 1978). 
2 Olga Tokarczuk, Nobel Prize in Literature Acceptance Speech, 20189
3 A term elaborated by Achille Mbembe in: Ethics of the Passerby, published in: Achille Mbembe, Necropolitics, Duke University Press 2019
4 Paul Celan, Tabernacle Window, in: Die Niemandsrose, 1963
5 Jacques Derrida, Sovereignities in Question. The Poetics of Paul Celan, Perspectives in Continental Philosophy Fordham University Press New York 2005, p. 33
6 Maurice Blanchot, The Writing of the Disaster, University of Nebraska Press 1986, p. 25
7 Judith Butler and Athena Athanasiou, Dispossession: The Performative in the Political, Polity Press 2013, p. 66
8 Judith Butler and Athena Athanasiou, op. cit., p. 104
9 Judith Butler and Athena Athanasiou, op. cit., p. 105
10 Christian Moraru, We Embraced Each Other by Our Names: Levinas, Derrida and the Ethics of Naming, in: Names 48, no. 1, 2000, p. 49–58
11 Jacques Derrida, Glas, University of Nebraska Press 1986, p. 6
12 Jacques Derrida, Pas, p. 98
13 Jacques Derrida, Glas, op. cit., p. 7
14 Judith Butler and Athena Athanasiou, op. cit., p. 83
15 Paul Celan, The Meridian, originally presented as a speech to the German Academy for Language and Poetry on the occasion of Celan’s acceptance of the Georg Büchner Prize for Literature, 1961
16 Paul Celan, The Meridian, in: Jacques Derrida, Sovereignities in Question. The Poetics of Paul Celan, op. cit., p. 180
17 Jacques Derrida, Sovereignities in Question. The Poetics of Paul Celan, op. cit., p. 110
18 Franco “Bifo” Berardi, Breathing. Chaos and Poetry, semiotext(e) intervention series n. 26, 2018
19 “Bifo” mentions “I can’t breath” in relation to African American Eric Garner’s assassination which occurred on July 17, 2014 in Staten Island, NYC, when a NYPD officer put him in a chokehold for about fifteen to nineteen seconds while arresting him. A similar act of police violence and an identical cause of death occurred on May 25, 2020 in Minneapolis, Minnesota. A white police officer Derek Chauvin knelt on the neck of yet another African American man, named George Floyd for a period initially reported to be 8 minutes and 46 seconds, causing his death. In both cases, the victims uttered “I can’t breath”. 
20 Franco “Bifo” Berardi in a conversation with Deja Crnović, June 22, 2020 in: https://www.disenz.net/en/franco-berardi-bifo-permanent-insurrection-is-the-only-way-to-breathe/
21 Rosi Braidotti, Borrowed Energy. Timotheus Vermeulen talks to philosopher Rosi Braidotti about the pitfalls of speculative realism in Frieze 165, August 12, 2014: https://www.frieze.com/article/borrowed-energy
22 T. J. Demos, Decolonizing Nature. Contemporary Art and the Politics of Ecology, Sternberg Press 2016, p. 242
23 Achille Mbembe, The Universal Right to Breathe, Critical Inquiry, April 13, 2020 in: https://critinq.wordpress.com/2020/04/13/the-universal-right-to-breathe/